In der Stochastik ist das Urnenmodell ein beliebtest Anschauungsbeispiel. Es geht darum, dass wir uns eine imaginäre, mit Kugeln gefüllte Urne vorstellen. Das Konzept des Urnenmodells geht mindestens auf das antike Griechenland zurück. Im mathematischen Kontext, wie hier, geht das Urnenmodell auf den Schweizer Mathematiker und Physiker Jakob I Bernoulli (1655-1705) zurück, der das Urnenmodell im Jahr 1713 beschrieben hat.

    Das Urnenmodell erlaubt zwei Vorgänge:

    • Ziehen von Kugeln ohne Zurücklegen
    • Ziehen von Kugeln mit Zurücklegen

    Im ersten Fall stehen die gezogenen Kugeln für die nachfolgenden Züge nicht mehr zur Verfügung. Wird die gezogene Kugel aber zurückgelegt, so kann sie mehrfach vorkommen, was neue Möglichkeiten bietet.

    Beispiel

    Eine Urne enthält 10 nummerierte Kugeln (Nr. 1 bis 10). Wir ziehen zwei Kugeln nach einander (ohne Zurücklegen) und stellen sie in der Reihenfolge, mit welcher wir sie gezogen haben, auf.

    Wie viele verschiedene Möglichkeiten gibt es, zwei Kugeln auf die beschriebene Art zu ziehen?


    Wir skizzieren ein Baumdiagramm und brauchen gar nicht den ganzen Baum zu zeichnen. Wir wissen, dass wir 10 Hauptäste haben für die erste Kugel, die wir ziehen und dass wir dann für die in der Urne verbleibenden neun Kugeln, neun kleinere Äste zeichnen müssen.

    Die Anzahl Enden lässt sich mit der einfachen Rechnung \(10 \cdot 9 = 90\) erhalten. Es gibt __90 Möglichkeiten__, zwei nummerierte Kugeln nacheinander zu ziehen.

    Beachte, dass die möglichen Ereignisse mit Hilfe geordneter Zahlenpaare beschrieben werden können. Im Fall der nummerierten Kugeln sind die Zahlenpaare:

    \[ (1,2),\;\; (1,3),\;\; (1,4),\;\; … \;\; (10,8),\;\; (10,9) \]

    Diese Zahlenpaare nennen wir 2-Tupel, weil sie zwei Zahlen enthalten. In anderen Fällen gibt es natürlich auch 3-Tupel, wie z.B. \((A,B,C)\). Auch wenn \(A\), \(B\) und \(C\) keine Zahlen sind, so können sie trotzdem ein 3-Tupel bilden. Die Buchstaben \((M,A,T,H,E)\) bilden beispielsweise ein 5-Tupel. Für \(n\) Objekte \(x_i\) in einer bestimmten Reihenfolge können wir ein \(n\)-Tupel bilden.

    Die Anordnung von \(n\) mathematischen Objekten \(x_i\) in einer bestimmten Reihenfolge bilden ein \)n\)-Tupel:

    \[ (x_1, x_2, … , x_n) \]

    Die mathematischen Objekte müssen nicht unterschiedlich sein, sondern können sich auch wiederholen.

    Beispiel

    Eine Urne enthält eine weisse(\(W\)), eine rote(\(R\)) und 20 blaue(\(B\)) Kugeln. Zeichne das Baumdiagramm und ermittle die Anzahl Möglichkeiten, drei Kugeln nacheinander (mit Reihenfolge) zu ziehen. Schreibe die 3-Tupel auf.

    a) Ziehen der drei Kugeln ohne Zurücklegen

    b) Ziehen der drei Kugeln mit Zurücklegen


    Beim ersten Zug können wir eine der drei Farben ziehen. Ist diese erste Kugel weiss(\(W\)), so haben wir für den zweiten Zug nur noch eine rote und ganz viele blaue Kugeln zur Auswahl, d.h. für den zweiten Zug gibt es nur zwei Möglichkeiten. Wenn wir mit der ersten Kugel rot(\(R\)) ziehen, ist es genau gleich. Ziehen wir mit der ersten Kugel blau(\(B\)), dann sind für die zweite Kugel alle drei Farben möglich.

    Das Baumdiagramm ist unregelmässig und wir können nicht einfach multiplizieren, sondern müssen alle Enden zählen. Es gibt total 13 mögliche Fälle oder 13 verschiedene 3-Tupel.

    Wenn wir aber die Kugeln nach jedem Zug zurücklegen, ist jeder Zug gleich. Wir haben immer drei mögliche Farben und können deshalb die Anzahl möglicher 3-Tupel berechnen mit:

    \[ 3 \cdot 3 \cdot 3 = 27 \]

    Wir haben hier ganze 27 mögliche Fälle.

    Zusätzlich zu den 13 Fällen aus der ersten Teilaufgabe (ohne Zurücklegen) kommen noch die farbig markierten 3-Tupel hinzu, die ohne Zurücklegen nicht möglich sind, da sie mehr als einmal \(R\) oder \(W\) enthalten.

    Wir schauen uns hier nochmals zwei Urnenmodelle an, gehen dieses Mal aber noch etwas weiter. Als Beispiel soll uns eine Urne mit \(N=12\) Kugeln dienen(\(G=4\) goldene und \(S=8\) schwarze Kugeln). Aus dieser Urne sollen 4 Kugeln gezogen werden.

    Wir werden jetzt die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit welcher wir genau 2 goldene Kugeln ziehen. Dabei werden wir die Fälle mit und ohne Zurücklegen gesondert anschauen.

    Ziehen mit Zurücklegen

    Wie so oft in der Kombinatorik, ist der Fall mit Zurücklegen eigentlich einfacher als derjenige ohne Zurücklegen. Der Grund ist einfach: Dank dem Zurücklegen ändert sich die Situation nach einem Zug nicht. Wir haben nach einem Zug wieder die Ursprungssituation.

    Dieses Problem lässt sich am besten mit einem Baumdiagramm verstehen. Mit dem ersten Zug können wir eine goldene oder eine schwarze Kugel ziehen. Wir legen die Kugel zurück. Für den zweiten Zug gilt wieder genau gleich: Es kann eine goldene oder eine schwarze Kugel gezogen werden usw. Wir haben für jeden Zug das Elementarereignis \(G\) oder \(S\):

    • \)G\) = gezogene Kugel ist golden
    • \)S\) = gezogene Kugel ist schwarz

    Die Wahrscheinlichkeit, dass wir genau die Reihenfolge \((G,G,S,S)\) ziehen ist, gemäss Pfadregel:

    \[ P(G,G,S,S) \;\; = \;\; \Big(\frac{4}{12}\Big)^2 \cdot \Big(\frac{8}{12}\Big)^2 \]

    Das ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, genau zwei goldene Kugeln zu ziehen. Es gibt ja noch 5 weitere Tupel, die wir im Baumdiagramm sehr einfach finden:

    \[ (G,S,G,S), \quad (G,S,S,G), \quad (S,G,G,S), \quad (S,G,S,G), \quad (S,S,G,G) \]

    Diese Tupel sind ja nichts anderes als Permutationen von 4 Buchstaben, wobei der Buchstabe \(G\) und der Buchstabe \(S\) zweifach vorkommen:

    \[ ^4P_{2,2} = \frac{4!}{2!\;2!} = \frac{24}{2 \cdot 2} = 6 \]

    Damit erhalten wir für die Wahrscheinlichkeit, genau 2 goldene Kugeln zu ziehen:

    \[ P(X=2) = 6 \cdot \Big(\frac{4}{12}\Big)^2 \cdot \Big(\frac{8}{12}\Big)^2 = … = \frac{8}{27} \approx 0.296 \]

    Urnenmodell mit Zurücklegen

    Wenn wir aus einer Urne mit \(N\) Kugeln (davon \(G\) Goldene) eine Stichprobe von \(n\) Kugeln ziehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir genau \(g\) goldene Kugeln gezogen haben:

    \[ P(X=g) \;\; = \;\; \begin{pmatrix} n \\ g \end{pmatrix} \cdot p^g \cdot (1-p)^{(n-g)} \]

    Dabei ist \(p\) der Anteil goldener Kugeln in der Urne:

    \[ p = \frac{G}{N} \]

    Analog steht \((1-p)\) für den Anteil “nicht-goldener” Kugeln:

    \[ (1-p) = \frac{N-G}{N} \]

    Beachte, dass die Anzahl Permutationen in diesem Fall mit dem Binomialkoeffizienten geschrieben werden kann, denn wir haben nur zwei Buchstaben, \(G\) und \(S\). Wenn die angestrebte Anzahl goldener Kugeln \(g\) ist, dann haben wir im \(n\)-Tupel genau sich \(g\)-fach wiederholende \(G\) und sich \((n-g)\)-fach wiederholende \(S\), d.h.

    \[ ^n P_{g,(n-g)} = \frac{n!}{g! \cdot (n-g)!} = \begin{pmatrix} n \\ g \end{pmatrix} \]

    Die Wahrscheinlichkeit des Urnenmodell mit Zurücklegen wird später zu der sog. Binomialverteilung führen.

    Beispiel

    Bei einer Schraubenproduktion entsteht im Schnitt ein Ausschuss von 0.2%. Mit welcher Wahrscheinlichkeit finden wir eine defekte Schraube in einer Stichprobe von 100 Schrauben?


    Wir können uns eine Urne bzw. einen Behälter vorstellen mit z.B. 10’000 Schrauben. Zwanzig davon sind defekt, was genau den 0.2% entspricht. Jetzt ziehen wir die Stichprobe von 100 Schrauben. Streng genommen ist es ein Ziehen ohne Zurücklegen, aber da die Anzahl Schrauben so unglaublich gross ist, bleibt die Situation näherungsweise unverändert, wenn wir nun eine Schraube gezogen haben oder nicht, d.h. wir rechnen jetzt mit Zurücklegen, auch wenn wir die Schraube nicht zurücklegen.

    Die Grössen, die wir kennen, sind: \(N=10’000\), \(n=100\), \(g=1\) und \(p=0.2%\). Wir setzen ein und erhalten:

    \[ P(X=1) \;\; = \;\; \begin{pmatrix} 100 \\ 1 \end{pmatrix} \cdot (0.002)^1 \cdot (1-0.002)^{99} \approx 0.164 = 16.4\% \]

    Ziehen ohne Zurücklegen

    Die Fragestellung bleibt die Gleiche, jedoch wird nicht mehr zurückgelegt, d.h. wir ziehen die vier Kugeln alle zusammen mit einem Zug oder ziehen sie nacheinander, legen die gezogenen Kugeln jedoch nicht mehr zurück. 

    Auch hier könnten wir wieder ein Baumdiagramm zeichnen. Wir sehen aber sofort, dass der Baum nicht mehr so regelmässig ist, denn gewisse Äste fallen weg. Überschaubare Probleme lassen sich mit dem Zeichnen eines Baums lösen, grössere Probleme hingegen nicht. Es lohnt sich deshalb die Sache anders anzugehen.

    Da das ziehen einer Kugel aus einer Urne eigentlich immer gleich wahrscheinlich ist für jede Kugel, handelt es sich um ein Laplace-Experiment. Für die Wahrscheinlichkeit brauchen wir demnach die Anzahl gewünschter Elementarereignisse \(|A|\) und die Anzahl möglicher Ereignisse \(|\Omega|\):

    \[ P = \frac{\;|A|\;}{|\Omega|} \]

    Wie viele mögliche Ereignisse gibt es? Nun, wir ziehen vier Kugeln aus einer Urne mit 12 Kugeln. Die Reihenfolge innerhalb der vier Kugeln ist nicht relevant und zurücklegen dürfen wir auch nicht. Aus dem Quadranten, der Übersicht über die Kombinatorik, erhalten wir die Formel für die Anzahl Kombinationen \(^nC_k\) mit \(n=12\) und \(k=4\):

    \[ ^4C_{12} = \begin{pmatrix} 12 \\ 4 \end{pmatrix} = \frac{12!}{8! \cdot 4!} = 495 \]

    Jetzt suchen wir die günstigen Fälle. Da wir die Wahrscheinlichkeit für genau zwei Kugeln berechnen möchten, ist das für uns die folgende allgemeine “Kugelmenge”:

    \[ \Big\{ G_i, G_j, S_k, S_l \Big\} \]

    Zum einen enthält diese Kugelmenge die \(i\)-te Kugel und die \(j\)-te Kugel der goldenen Kugeln. Da wir in der Urne vier goldene Kugeln haben, d.h. \(G_1\), \(G_2\), \(G_3\) und \(G_4\), gibt es folgende 6 mögliche Kombinationen:

    \[ \{ G_1, G_2 \}, \;\; \{ G_1, G_3 \}, \;\; \{ G_1, G_4 \}, \;\; \{ G_2, G_3 \}, \;\; \{ G_2, G_4 \}, \;\; \{ G_3, G_4 \} \]

    Die Anzahl 6 hätten wir auch berechnen können. Es ist ein Auswahl von zwei goldenen Kugeln aus total 4 goldenen Kugeln:

    \[ ^2C_4 = \begin{pmatrix} 4 \\ 2 \end{pmatrix} = \frac{4!}{2! \cdot 2!} = 6 \]

    Für die schwarzen Kugeln gehen wir genau gleich vor. Hier werden zwei schwarze Kugeln aus total 8 Kugeln gezogen, d.h.

    \[ ^2C_8 = \begin{pmatrix} 8 \\ 2 \end{pmatrix} = \frac{8!}{6! \cdot 2!} = 28 \]

    Die Kombinationen der goldenen Kugeln und derjenigen der schwarzen Kugeln verknüpfen wir gemäss dem Fundamentalprinzip der Kombinatorik: Wir multiplizieren. Es gibt damit \(6 \cdot 28 = 168\) günstige Kugelkombinationen, d.h. mit genau zwei goldenen Kugeln.

    Jetzt können wir die Wahrscheinlichkeit berechnen:

    \[ P(X=2) = \frac{\begin{pmatrix} 4 \\ 2 \end{pmatrix} \cdot \begin{pmatrix} 8 \\ 2 \end{pmatrix}}{\begin{pmatrix} 12 \\ 4 \end{pmatrix}} = \frac{6 \cdot 28}{495} \approx 0.339 \]

    Urnenmodell ohne Zurücklegen

    Wenn wir aus einer Urne mit \(N\) Kugeln (davon \(G\) Goldene) eine Stichprobe von \(n\) Kugeln ziehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir genau \(g\) goldene Kugeln gezogen haben:

    \[ P(X=g) \;\; = \;\; \frac{\begin{pmatrix} G \\ g \end{pmatrix} \cdot \begin{pmatrix} N-G \\ n-g \end{pmatrix}}{\begin{pmatrix} N \\ n \end{pmatrix}} \]

    Die Wahrscheinlichkeit des Urnenmodell ohne Zurücklegen wird später zu der sog. hypergeometrischen Verteilung führen.

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    Autor dieses Artikels:

    David John Brunner

    Lehrer für Physik und Mathematik | Mehr erfahren

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