Es war einmal in Mesopotamien…
Etwa 1800 bis 1600 Jahre vor Christus, so vermuten die Archäologen, hat ein Babylonier die Wurzel von 2 berechnet. Das allein ist schon beachtlich. Es kommt aber noch besser: Die Berechnung, die in weichem Ton mit der Keilschrift eingedrückt war, wies eine Genauigkeit von 6 Stellen nach dem Komma auf!
Seine Tontafel ist heute bekannt als “YBC 7289”. Sie enthält die Berechnung im babylonischen Zahlensystem, dem Sexagesimalsystem (Sechzigersystem). Ein paar Reste des Sechzigersystem haben sich übrigens bis heute gehalten: Wir haben 60 Sekunden in einer Minute und 60 Minuten in einer Stunde. Auch die genauen Winkelangaben kennen noch die Minuten und Sekunden.
Herons Verfahren
Heute benutzen wir einfach einen Taschenrechner und wissen gar nicht, wie dieser auf den Wert der Wurzel kommt, denn auch ein Taschenrechner kann eigentlich nur die einfachsten Rechenoperationen ausführen. In unseren heutigen Taschenrechnern ist das Rechenverfahren der Babylonier versteckt. Auch wenn sie es erfunden haben, so ist dieses Verfahren heute eher bekannt als das Heron-Verfahren. Der griechische Mathematiker und Ingenieur Heron von Alexandria veröffentlichte dieses Verfahren etwa zu Lebzeiten von Christus, d.h. fast zwei Jahrtausende nach seiner Erfindung!
Das Verfahren geht so: Wenn wir eine quadratische Fläche haben, dann ist das Quadrat der Seitenlängen \(a\) gleich der Fläche \(A\) des Quadrats:
\[ a^2 = A \quad \Leftrightarrow \quad a = \sqrt{A} \]
Für Quadratzahlen kennen wir die Wurzelwerte, weil sie natürliche Zahlen sind. Was tun, wenn wir eine Wurzeln von einer Nicht-Quadratzahl berechnen müssen?
Der Trick ist ein iteratives Näherungsverfahren. Das kannst du dir ein bisschen wie Golf vorstellen: Zuerst schlägst du auf den Ball, damit dieser möglichst weit kommt. Die Richtung muss stimmen, aber sonst ist die Sache noch nicht sehr genau. Sobald du schon ein bisschen näher dran bist, schlägst du weniger stark und etwas gezielter, bis du nur noch wenige Meter vom Loch entfernt bist. Am Schluss reicht ein sanfter und sehr genauer Stoss und der Ball ist versenkt.
Für die Bestimmung der Wurzel geht das ähnlich. Wir schauen uns das am Beispiel von \(\sqrt{3}\) an:
Der Wurzelwert von \(\sqrt{3}\) ist die Seitenlänge eines Quadrats, dessen Fläche 3 entspricht. Wir starten mit einem Rechteck mit einer Seite der Länge 1. Warum 1? Warum nicht! Wir kennen die Lösung nicht und müssen mit irgendeinem Wert anfangen. Das Schöne an der Länge 1 ist, dass ich sehr schnell die Länge der anderen Seite habe, nämlich 3, damit die Fläche 3 ergibt.
Unser Rechteck (1 \(\times\) 3) ist noch ein sehr schlechtes “Quadrat”: Die Seite mit der Länge 1 ist zu kurz und die Seite mit Länge 3 ist zu lang. Die Lösung muss irgendwo zwischen 1 und 3 liegen.
Wir nehmen deshalb einfach den Durchschnitt der beiden Seitenlängen:
\[ a_1 = \frac{1}{2} \cdot (1 + 3) = 2 \]
Wenn jetzt die eine Seite die Länge 2 hat, dann hat die andere Seite die Länge \(\frac{3}{2}=1.5\). Wir erhalten ein zweites Rechteck, das der Lösung schon näher ist.
Auch jetzt ist die eine Seite zu lang und die andere Seite zu kurz. Wir bilden wieder den Durchschnitt:
\[ a_2 = \frac{1}{2} \cdot (2 + \frac{3}{2}) = \frac{7}{4} = 1.75 \]
Nach vier Durchschnitten sind wir der Lösung schon sehr nahe gekommen:
\[ a_3 = \frac{1}{2} \cdot (\frac{7}{4} + \frac{3}{7/4}) = \frac{97}{56} = 1.732 \]
\[ a_4 = \frac{1}{2} \cdot (\frac{97}{56} + \frac{3}{97/56}) = \frac{18’817}{10’864} \]
Wir vergleichen mal unseren Wert nach vier Iterationen mit dem Wert von \(\sqrt{3}\) aus unserem Taschenrechner:
\[ \frac{18’817}{10’864} = 1.732’050’81 \]
\[ \sqrt{3} = 1.732’050’81… \]
Mit 8 Stellen nach dem Komma kann zwischen den beiden Resultaten bereits schon keine Abweichung mehr festgestellt werden! Mit dem Bruch haben wir also eine rationale Näherung \(\in \mathbb{Q}\) für den sonst irrationalen Wurzelwert \(\sqrt{3} \in \mathbb{R}\) gefunden!
Wir beweisen, dass das Verfahren funktioniert
Wer sich in Folgen und Reihen schon ein bisschen auskennt, kann hier noch etwas Interessantes erkennen. Die Zwischenresultate unserer iterativen Näherung bilden nämlich eine Folge:
\[ (a_n) \;\;=\;\; 2, \;\; \frac{7}{4},\;\; \frac{97}{56}, \;\;\frac{18’817}{10’864},\;\; … \]
Ein einzelnes Glied der Folge hätte folgende rekursive Definition:
\[ a_{n+1} \; = \; \frac{1}{2} \cdot \Big(a_n + \frac{A}{a_n}\Big) \]
Wir quadrieren die Gleichung und subtrahieren auf beiden Seiten der Gleichung den Wert \(A\), von welchem die Wurzel berechnet werden soll.
\[ a_{n+1}^2 \; = \; \frac{1}{4} \cdot \Big(a_n + \frac{A}{a_n}\Big)^2 \]
\[ a_{n+1}^2 – A \; = \; \frac{1}{4} \cdot \Big(a_n + \frac{A}{a_n}\Big)^2 – A \]
Jetzt können wir rechts die Klammer ausmultiplizieren und somit das subtrahierte \(A\) in die Klammer bringen
\[ \require{cancel} a_{n+1}^2 – A \; = \; \frac{1}{4} \cdot \Big(a_n^2 + 2 \cancel{a_n} \frac{A}{\cancel{a_n}} + \frac{A^2}{a_n^2} \Big) – \frac{1}{4} \cdot 4A \]
\[ a_{n+1}^2 – A \; = \; \frac{1}{4} \cdot \Big(a_n^2 + 2 A – 4 A + \frac{A^2}{a_n^2} \Big) \]
\[ a_{n+1}^2 – A \; = \; \frac{1}{4} \cdot \Big(a_n^2 – 2 A + \frac{A^2}{a_n^2} \Big) \]
\[ a_{n+1}^2 – A \; = \; \frac{1}{4} \cdot \Big(a_n – \frac{A}{a_n}\Big)^2 \]
Auf der rechten Seite haben wir eine Klammer im Quadrat. Deshalb gilt: Egal was in der Klammer ist, das Quadrat ist immer positiv! Im Spezialfall, wo wir mit \(a_n\) bereits schon die Lösung von \(\sqrt{A}\) haben, ist die Klammer genau null. In allen anderen Fällen ist die rechte Seite grösser als null. Das bedeutet für die linke Seite:
\[ a_{n+1}^2 – A > 0 \quad \Leftrightarrow \quad a_{n+1} > \sqrt{A} \]
Unsere Näherung \(a_{n+1}\) ist in jedem Fall grösser als die gesuchte Lösung, d.h. unsere Näherung ist immer ein bisschen zu gross. Das war im vorigen Beispiel ja auch der Fall: Die Werte kamen von oben und näherten sich der Lösung an:
\[ (a_n) = 3, \;\; 2,\;\; 1.75,\;\; 1.732, \;\;… \]
Wir können jetzt eine weitere Untersuchung anstellen: Wir wissen, dass wir immer über der Lösung sind. Die Frage ist jetzt aber: Kommen wir der Lösung immer näher? Ideal wäre doch, wenn wir mit jedem Iterationsschritt den Wert unserer Näherung verkleinern könnten. Dann wissen wir nämlich, dass wir zwar immer über der Lösung sind, aber auch, dass wir immer näher zur Lösung kommen.
Wenn unsere Näherung immer zu gross ist, dann sollte sie wenigstens von \(a_n\) zu \(a_{n+1}\) zwingend abnehmen:
\[ a_{n+1} < a_{n} \]
Somit bilden wir die Differenz \(\Delta a = (a_{n+1} – a_n)\) und versuchen zu zeigen, dass sie negativ ist:
\[ \Delta a = \frac{1}{2} \cdot \Big(a_n + \frac{A}{a_n}\Big) – a_n \]
\[ \Delta a = \frac{a_n}{2} + \frac{A}{2a_n} – \frac{2a_n}{2} \]
\[ \Delta a = \frac{a_n^2}{2a_n} + \frac{A}{2a_n} – \frac{2a_n^2}{2a_n} \]
\[ \Delta a = \frac{A-a_n^2}{2a_n} \]
Der Nenner ist sicher positiv und der Zähler ist sicher negativ, denn die Näherung \(a_n^2\) ist grösser als \(A\). Unser Bruch ist damit sicher negativ und damit ist \(\Delta a < 0\), was bedeutet, dass die Werte von \(a\) in der Folge streng monoton fallend sind. Wir haben damit gezeigt, dass unsere Näherung eine streng monoton fallenden Folge bildet. Sie nimmt mit jedem Schritt ab und kommt so der Lösung immer näher.
Der Grenzwert für ein sehr grosses \(n\) muss deshalb die Lösung sein:
\[ a_{\infty} = \lim_{n \rightarrow \infty}\big( a_n \big) = \sqrt{A} \]
Verallgemeinerung für n-te Wurzeln
Wenn wir den Wurzelwert einer \(n\)-ten Wurzel berechnen möchten, dann geht das auch, aber mit einem etwas allgemeineren Verfahren, das Sir Isaac Newton (1643-1727) zugeschrieben wird. Es ist auch ein iteratives Verfahren, das erlaubt eine Nullstelle zu approximieren. In unserem Fall können wir den \(x\)-Wert der Nullstelle der Funktion \(f(x)=x^n-A\) bestimmen. In der Nullstelle gilt ja \(x^n-A = 0\) bzw.
\[ x^n = A \quad \Leftrightarrow \quad x = \sqrt[n]{A} \]
So genial Newton auch war, der Algorithmus, wie er heute bekannt ist, stammt nicht von ihm, sondern vom englischen Mathematiker, Thomas Simpson. Dafür ist dieser heute für die sog. Simpson’sche Formel bekannt, die aber in einem ganz anderen Gebiet zu finden ist. Interessanterweise ist die Simpson’sche Formel aber gar nicht von Simpson, sondern (in vereinfachter Form) von Johannes Kepler (1571-1630).
Unsere Babylonier sind damit nicht alleine: Sie haben etwas Geniales gefunden, aber die Welt vergisst, wem sie das zu verdanken hat.
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